Was passiert in einer individual-pädagogischen Massnahme? Was sind Ursachen und Lösungen der Probleme junger Menschen? Während in den Medien meist zu wenig Zeit für die Betrachtung dieser und anderer Fragen bleibt, beschäftigen Sie mich Tag für Tag in meiner Arbeit. Deswegen war mir wichtig, was einer, der seit über einem Jahrzehnt Jugendhilfe mitprägt, dazu zu sagen hat.
Herr Bachorz, Sie sind Geschäftsführer des Schwerter Jugendhilfeträgers „
Caring ISP“. Was hat sich der Leser darunter vorzustellen?
Das Institut für soziale Praxis ist ein anerkannter freier Träger der Jugendhilfe und arbeitet im Auftrag der Jugendämter gemäß dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und bietet im Rahmen der Hilfe für Erziehung pädagogische Hilfen für Kinder und Jugendliche an. Ein Schwerpunkt unserer pädagogischen und therapeutischen Hilfen liegt darin, individuelle Lösungen für schwierige und in der Vergangenheit oft nicht erreichbare Kinder und Jugendliche zu erarbeiten.
Diese Kinder haben meist verschiedene Stationen der Jugendhilfe, wie Heimunterbringungen oder Psychiatrien durchlaufen. Es sind Kinder, die schon viele Enttäuschungen von Erwachsenen und Beziehungsabbrüche erlebt haben; Kinder, die „keiner mehr will“. Uns erreichen dabei Anfragen für Kinder aus allen sozialen Schichten.
Wir bieten kein Jugendhilfeangebot von der „Stange“, sondern ein auf das Kind oder den Jugendlichen abgestimmte massgeschneiderte Hilfe, die ein hohes Maß an Flexibilität und Kreativität durch uns erfordert.
Wenn ich das richtig verstehe, kümmern Sie sich um Kinder und Jugendliche, die nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben können. Welche Problemlagen bringt dieser Personenkreis mit?
Die Problemlagen sind sehr unterschiedlich sowie vielschichtig.
Wir betreuen Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens, ein hoher Anteil hatte eine fehlende geborgene Kindheit, einen Mangel an Betreuungspersonen, fehlende oder mangelnde elterliche Liebe, erlebte physische und psychische Gewalt, und dadurch ein gestörtes Bindungsverhalten und ein fehlendes Selbstbild. Nahezu 90% der betreuten Kinder kommen aus Scheidungsfamilien. Diese zahlreichen Defizite werden dann häufig umgelenkt in erhebliche Verhaltensauffälligkeiten wie Gewalt oder anderes.
Wieso haben Sie überhaupt ein Interesse daran, ausgerechnet diesen „Problemfällen“ zu helfen?
Im Rahmen meiner früheren Arbeit, einer bei einer Kommune ins Leben gerufenen Projektgruppe zur Verhinderung von Heimunterbringungen, hatte ich Gelegenheit mit vielen Kindern und Jugendlichen, die in Heimen untergebracht waren, zu sprechen. Eindrucksvoll schilderten viele junge Menschen, dass sie in ihrem Lebensort „Heim“ niemanden für „sich“ hätten. Kaum jemand, der Zeit für sie habe, um exklusiv für sie da zu sein.
Ferner konnte ich beobachten, dass in den Einrichtungen mit vielen auffälligen Kindern und Jugendlichen sich diese Auffälligkeiten noch potenzierten, oder dass bisher weniger auffällige Jugendliche dann auffällig wurden.
Viele wechselnde Bezugsbetreuer mit Schichtdiensten, mit einhergehender Fluktuation der Mitarbeiter, sorgten zwangsläufig dafür, dass eine Beziehungsarbeit nicht möglich werden konnte.
Dies war Anlass für diesen Personenkreis individualpädagische Hilfen zu initiieren und hiermit ein Angebot von Beziehung und Verbindlichkeiten in einer Form zu schaffen, die bei vielen Kindern und Jugendlichen bisher in dieser Form nicht bekannt war – als ein Angebot verlässlicher Beziehungen in Projekstellen.
Seit über 10 Jahren Jugendhelfer:
Dietmar Bachorz
Quelle: Caring ISP
Sie sprechen von „Projektstellen“ statt von „Pflegefamilien“ – wieso eigentlich?
Individualpädagogische Konzepte in professionellen Erziehungs- oder Projektstellen zeichnen sich neben dem Leben von Alltag durch die professionelle Haltung der Betreuer aus, die ich wie folgt formuliere:
„Ich akzeptiere dich so wie du bist und versuche in Kontakt mit dir die Situationen für alle befriedigend zu gestalten. Ich lasse mir nichts gefallen, aber ich will dich nicht verändern. Wenn du dich verändern willst und du gemeinsam mit mir eigene Ziele findest, werde ich dir Unterstützung geben. “
Ferner werden die Mitarbeiter in den Projektstellen sehr eng durch geschulte Fachkräfte pädagogisch und psychologisch beraten und erhalten Supervision.
Aktuell suchen Sie nach neuen Projektstellen. Wer sollte sich angesprochen fühlen?
Die Betreuer, egal ob Einzelpersonen oder Lebensgemeinschaften, müssen pädagogische Fachkräfte sein, wie Erzieher, Sozialpädagogen, Heilpädagogen, Psychologen…
Neben einer praktischen Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sollten sie die für die Arbeit notwendige Authentizität, Akzeptanz der Individualität der Kinder, aber auch eine gelebte Solidarität und Offenheit mitbringen. Als Schlüsselqualifikation sind neben Kreativität und Erfahrung Kommunikation- und Kooperationsfähigkeit, Entscheidungs- und Problemlösungskompetenzen hilfreich.
Neben den vorhandenen Kompetenzen werden durch interne Fortbildungen und intensive Begleitung und Beratung durch unsere Psychotherapeuten und Koordinatoren notwendige Handungskompetenzen erworben. Bewerber benötigen ein einwandfreies erweitertes Führungszeugnis.
Wo und wie können sich interessierte Leser als Projektstelle bewerben?
Interessierte können sich direkt bei Caring-ISP,
Alfred-Klanke-Str. 7 in 58239 Schwerte oder
über E-Mail bewerben.
Wie enden eigentlich Betreuungsverhältnisse? Haben Sie immer einen Erfolg zu verbuchen oder gibt es einen Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen, denen Sie nicht helfen können?
Bisher konnten wir einen ungewöhnlich hohen Erfolg für die Jugendlichen erreichen. Ein großer Teil konnte einen erfolgreichen Schulabschluss erreichen, manche sogar ihr Abitur. Einige befinden sich in Ausbildung oder haben Erwerbstätigkeiten ohne Schulabschluss aufgenommen, ohne dass sie von Hartz IV abhängig sind.
Erfolge konnten allein schon dadurch erreicht werden, dass Jugendliche nicht mehr straffällig wurden; insgesamt ist ein hohe Zufriedenheit bei Jugendlichen, Sorgebrechtigten und Jugendämtern zu verzeichnen.
Natürlich gab es auch eine geringe Zahl von Jugendlichen, die wir nicht erreichen konnten. Häufig waren es hochtraumatisierte Jugendliche oder Jugendliche mit Borderlinestörungen, die zunächst klinisch versorgt werden mussten.
Da Individualpädagogik für den einzelnen Jugendlichen neben Geborgenheit, Wärme und Ersatzfamilie jedoch auch bedeutet, jeden Tag an den eigenen Grenzen, Fähigkeiten und schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit zu arbeiten, ist diese Arbeit auch oder gerade für den Betroffenen äußerst anstrengend.
Plakativ gesprochen: Keiner von uns möchte täglich an seinen eigenen Schwächen arbeiten. Manche unserer Kinder halten das nicht, oder nur bedingt, aus. Und nicht immer gelingt es uns, ihnen ihren Weg aus ihren persönlichen Schwierigkeiten als Ziel zu „verkaufen“. So kommt es leider dann und wann auch zu Abbrüchen von Maßnahmen, jedoch ist dieser Prozentsatz deutlich niedrig.
Oftmals wird das Bild einer Jugend gezeichnet, die immer schwieriger wird. Stimmt dies überhaupt? Oder werden die Problemfälle immer problematischer?
Problematische und schwierige Kinder, Jugendliche und Familien hat es schon immer gegeben. Durch den gesellschaftlichen Wandel sind die Problemlagen der Kinder dem Wandel unterlegen. Heute ist die mediale Aufmerksamkeit sicher eher höher als noch vor 20 Jahren.
Im Rahmen des § 8a werden auch heute den Jugendämtern wesentlich mehr Kindeswohlgefährdungen durch Kindergärten, Nachbarn, Schulen und andere gemeldet.
Gründe für diese Problematik sehe ich in erster Linie in Erziehungsdefiziten, häufig sind schon die Eltern und Großeltern mit Defiziten aufgewachsen. Regeln werden in solchen Familie nicht angesprochen, die Eltern wissen dann auch nicht wie, mit wem und womit ihre Kinder die Freizeit verbrungen. Probleme werden nicht erkannt oder angesprochen, negatives Verhalten wird ignoriert. Normen und Werte werden in der Familie häufig nur mangelhaft vermittelt.
Es fehlt an Selbstwert, Idealen, Vorbilder. Ebenso wie eine geborgene Kindheit.
Es fehlt an Orientierung, und ohne einen Platz in der Welt lebt es sich schwer.
Diese Defizite schreien dann nach Kompensierung bzw. auch Dominazverhalten.
Auffällig ist, dass wir mehr und mehr Anfragen für die Behandlung und Unterbringung von Kindern auch unter 11 Jahren erhalten, die bereits psychische oder physische Misshandlungen erfahren haben. Dieses verursacht beim Kind natürlich enormen Stress, das biologische Gleichgewicht ist bedroht und es kommt zu massiven Auffälligkeiten.
Das Bild vom rotbäckigen Lausbuben, der auf Bäume klettert dürfte schon lange der Vergangenheit angehören.
Jugendliche Straftäter entstehen nicht aus dem Nichts!
Quelle: Photocappy / Flickr / CC-BY-SA
Gibt es Entwicklungen in Politik und Gesellschaft, die Ihnen mit Blick auf die Jugendhilfe oder die Jugendlichen allgemein zu denken geben?
Zu denken gibt mir, dass es Bestrebungen in der Politik gibt, die einen Rechtsanspruch für Hilfen zur Erziehung abschaffen wollen.
Sie sind seit 10 Jahren im Bereich der Jugendhilfe tätig – welches war für Sie persönlich Ihr größter Erfolg?
Der größte Erfolg in der Zeit meiner Arbeit in der Jugendhilfe ist zu sehen, dass es sich lohnt, sich für die, durch Versagen des Systems Famili oder strafbare Handlungen schwierig gewordenen Kindern und Jugendlichen, einzusetzen und ihnen eine Perspektive zu ermöglichen.
Ein Erfolg ist auch zu sehen, dass Mitarbeiter, die diese jungen Menschen aufnehmen, ihre Kraft und Energie, Kreativität und Phantasie mit einer würdigenden Haltung dieser erfolgreichen Arbeit widmen.
Beziehung kann heilen.
Vielen Dank für dieses Gespräch!
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